Gewinnerin des Karin-Hollweg-Preises im Interview
Zukunft denkbar machen
Gewinnerin des Karin-Hollweg-Preises im Interview: Hannah Wolf
Der Freie-Kunst-Studentin Hannah Wolf (*1985) wurde als Meisterschülerin von Julika Rudelius, HfK-Professorin für Zeitbasierte Medien, der mit 18.000 Euro dotierte Karin Hollweg Preis 2023 zugerkannt. Wir sprachen mit ihr über das HfK-Studium und die ausgezeichnete Videoinstallation „Arbeit am Produkt“.

Von links: Preisstifterin Karin Hollweg, Gewinnerin Hannah Wolf und David Bartusch (Vorsitzender des Freundes- und Förderkreises der HfK Bremen). Foto: Kim Mayer
Nach dem Ende des Studiums noch ein Jahr als HfK-Meisterschülerin leben, warum hattest du dich dafür entschieden?
Die Welt nach dem Studium ist fies genug, nur wenige werden von ihrer Kunst leben können. Da ist es reizvoll, nach dem Diplom ein weiteres Jahr in der geschützten Freiheit der Hochschule zu verbringen – mit der Meisterschüler:inneausstellung als Ziel, auf das man hinarbeiten kann in der Gewissheit, dort in einer renommierten Bremer Institution wie jetzt der GAK eine große Aufmerksamkeit zu bekommen. Deswegen muss meine Arbeit dafür wirklich stimmig sein – und dafür ein Jahr Zeit zu haben, ist wahnsinnig toll. Gleichzeitig hat man immer noch die Begleitung aus der HfK und die Hilfe der Professorin. Das Beste aus zwei Welten: Ich bin einerseits völlig frei, muss nicht mehr ins Plenum gehen, aber ich kann. Ich muss keinen Theorieschein mehr machen, kann aber immer Martin Schulz, Professor für Kunstwissenschaft, Theorie und Geschichte ästhetischer Praxis, was fragen.
Warum wolltest du Meisterschülerin bei Julika Rudelius sein?
Ich habe bei ihr studiert, da ist ein Vertrauensverhältnis entstanden, das wollte ich fortsetzen. Sie hat einen sehr genauen Blick und versteht, was ich möchte, ärgert mich dann immer und will, dass ich was anderes mache, dann streiten wir uns, aber genau in diesem Streiten wird man sich ja sicherer. Es war auch problemlos, Meisterschülerin zu werden. Es gibt da so eine familiäre Generosität an der HfK, Julika fragte, willst du Meisterschülerin werden, dann bitte schön. Das wars. An anderen Hochschulen muss man dafür nach dem Vordiplom die Tasche des Professors tragen.
Wie bist du auf das Thema deiner ausgezeichneten Arbeit gekommen?
Ich arbeite viel in Schleifen, sammele immer und überall Material, kehre dann gern an Orte oder zu Ideen und Bildern von einst zurück.
In diesem Fall zu dem stillos protzig für unkontrollierbaren Massentourismus zum Kulissendorf entlebten Ort Side an der türkischen Riviera.
Dort war ich 2016 schonmal. Die Fotos habe ich mir nochmal angeschaut und gedacht, hey, da ist was in dieser Konstellation der Hotelburgen und den griechischen, byzantinischen und römischen Ruinen. So bin ich dort im November 2022 und Februar 2023 nochmal hingeflogen.
Und hast Pauschalurlaub gemacht?
Ja, man steht auf, geht runter zum Frühstücksbüfett, läuft tagsüber 20 Kilometer durch die Gegend und filmt, ist anschließend völlig erledigt, kriegt dann sein Abendessen und geht nochmal in die Sauna, für alles ist gesorgt, ich kann das zum Arbeiten wirklich nur empfehlen.
Du hast dir das auf unseren Telefonen und Bildschirmen allgegenwärtige Medium Video ausgesucht. Arbeitest du schon immer damit?
Angefangen habe ich mit Textildesign und mich an der HfK 2012 mit einer Performance beworben, in der ich vier Stunden auf einem Stuhl saß und nix gemacht habe, außer alle Viertelstunde per Selbstauslöser ein Foto zu schießen.
Ein Verweis auf die Performance „The Artist is Present“ (2010) von Marina Abramović, für die sie 75 Tage im New Yorker Museum of Modern Art regungslos und stumm auf einem Stuhl verharrte, aber Augenkontakte zu den Besuchern herstellte?
Einerseits. Auch ging es um eine Verweigerungsgeste der Prüfung gegenüber, die ich dabei aber andererseits komplett in mich selbst verlegt hatte. Das war so ziemlich das anstrengendste, was ich je gemacht habe.
Vom Fotografieren kamst du zum Video?
Genau. Aber Video denke ich nicht narrativ als Film, sondern aus der Fotografie heraus. Das ist für mich erweiterte Fotografie.
Videos sind in Museen und Galerien gerade nicht mehr so beliebt, weil dafür häufig diese Black Boxes herzurichten sind und viele Besucher:innen durch all die Selbstinszenierungen, Wirklichkeitsmanipulationen, die Verbreitung von Macht, Eiferei und Werbung übersättigt scheinen von digitalen Bewegtbildern. Und gut zu verkaufen sind Videos auch nicht ...
... stimmt. Aber ich bediene ja nicht Insta-Trends, unterlaufe Tiktok-Ästhetiken mit der Art meiner Montage. Mir ist wichtig, dass ich mit der Technik ganz direkt mit der Realität interagieren, diese möglichst unvermittelt zeigen kann. Ich greife in die Bilder nicht viel ein, inszeniere nicht. Das hat was mit meiner Haltung als Künstlerin zu tun. Was ich mit all meinen Arbeiten versuche, ist, zu gucken, welche ideologischen Einschreibungen, welches Kondensat von politischen Zeichen gibt es in dem, was ich da sehe. Vor allem Architektur interessiert mich da. Warum sieht sie so aus wie sie aussieht und was sagt uns das? Ich versuche die darin verwirklichten oder damit behaupteten Prinzipien herauszuarbeiten. Architektur, die Macht ausdrücken und manifestieren soll. Architektur der Wurschtigkeit, die einfach nur irgendwie billig aussieht. Architektur der Hotel-Ressorts, bei denen man denken könnte, hey, das ist unsere Realität, das kriegen wir gerade noch aufgebaut, aber darin ist doch alles an utopischem Gehalt über Gesellschaft verschwunden, alles nur noch Produkt, Oberfläche ...
Ist das nicht die Utopie der Instagram-Welt?
Manche würden das so sehen. Ich möchte aber das Denken einer Gesellschaft befördern, die sich in eine Zukunft entwickelt. In den noch eine gewisse Erhabenheit ausstrahlenden Ruinen neben den Hotels wurde – wenn auch mithilfe der Sklaven – versucht, Zukunft zu gestalten.
Die kommentierst die Bilder mit der Texteinblendung „Die Gegenwart hat ihre Zukunft schon hinter sich“. Ich erinnerte mich da an den Aphorismus: Wo die Zukunft verbaut ist, gerät die Gegenwart zur Hölle. So wirkt es ja, wie du die trostlosen Bilder von den Tempeln des Ramschurlaubs mit den schönen Abbildern archäologischer Ausgrabungsstätten konfrontierst und ihre recht schäbige Inbesitznahme durch die Touristen ...
... in der die Ruinen selbst zum Produkt werden, unsere Vergangenheit, die Momente der Größe hatte, zur reinen Kulisse entkernt wird. Interessant dabei, dass die ganzen Ausgrabungen von den Besitzern der Hotels finanziert sind, um Side als anziehenden historischen Ort vermarkten zu können.
So wie du die Bilder der Wirklichkeit hinterfragst, könnten Betrachter:innen meinen, die Hannah Wolf will uns den verdienten Türkeiurlaub madig machen.
Meine Frage ist eher: Wie viel Offenheit zum Denken hat eigentlich unsere Gesellschaft noch, da wir doch alles kommodifiziert haben – wenn wir die Warenförmigkeit des normierten Pauschalurlaubs in diesen Resorts wählen, spiegelt das die Fantasielosigkeit im Leben. Diese Sorte Urlaub folgt eigentlich den gleichen Prinzipien wie der Büroalltag. Nur woher kommt der Wunsch nach einer Realität, die gesäubert ist von realen Erfahrungen? Daran äußere ich Kritik, obwohl ich verstehe, warum das Sicherheit gibt, was viele angenehm empfinden. Aber in der reinen Ablehnung geht meine Arbeit nicht auf.
Du liebst auch Pauschalurlaub, wie du eben erzählt hast, und du liebst Shopping Center, mit denen du dich in deiner Diplomarbeit im Juni 2022 im Neustadtsbahnhof auseinandergesetzt hast: „Daddy, may I cum?“
Ich habe in der Zeit der Dreharbeiten in der Bremer „Waterfront“ so viel geshoppt wie noch nie in meinem Leben. Ich liebe Shopping-Center, auch wenn ich sie total furchtbar finde. Oder vielleicht: Weil ich sie so furchtbar finde. Dort habe ich auch immer mal Kaffee bei Starbucks getrunken, diese Sirupplörre ist ziemlich ekelhaft, aber auch sehr geil.
Dein Genuss kommt also aus der Metaperspektive und deinem Interesse an Ambivalenz. Du kritisierst, dass der Kapitalismus so viele Menschen bis tief ins Herz verblödet und nur über diverse Ausbeutungsformate funktioniert, kannst aber auch seine Produkte genießen. Nur: Ist der Traum vom sommerluftig-leichten Leben, wofür die Hotelburgen stehen, auch schön?
Nein. Das hat viel mit Entfremdung zu tun, die dort tröstlich genutzt wird. So wie im Kino, dort geht man ja auch hin, um sich von sich selbst zu entfremden, was toll ist. Aber gleichzeitig ist unser Leben ja die ganze Zeit so entfremdet, unsere Arbeit, das Surrogat von Beziehungen in den sozialen Medien, die Kommunikation via Messenger-Diensten usw. – das ist ja eine ziemliche Verflachung, wenn sie auch praktisch ist. Aber in dieser alltäglichen Erfahrung macht es natürlich Sinn, sich Erholung in so einem entfremdeten All-inclusive-Erlebnis zu suchen. Es geht mir um die Glücksversprechen, die nie eingelöst werden – etwa beim Konsum im Einkaufszentrum oder des Urlaubs. Da gibt es bei mir den Traum dahinter, dass das auch anders sein könnte. Wie gesagt, ich wünsche mir, es wäre wieder eine Zukunft denkbar.
Ist das dein politischer Ansatz?
Ja. Ich versuche unsere Seh- und Denkgewohnheiten, das was uns geläufig ist, zu drehen, also bei mir im Video mal anders zu montieren. Das ist mein Bemühen um politische Bildung.
Was machts du mit dem Preisgeld, 9.000 Euro werden ja direkt an dich ausgezahlt, die andere Hälfte ist für die Realisierung einer Einzelausstellung reserviert.
Erstmal kaufe ich mir einen Kühlschrank, anschließend noch eine Spülmaschine und dann finanziere ich Zeit zum Nachdenken, will mir etwas Freiheit schaffen, in der ich weniger lohnarbeiten muss für die Vorbereitung der Einzelausstellung. Die wird teuer. Denn Recherchereisen sind wieder notwendig. Ich plane eine Multikanal-Videoarbeit, da sind dann auch schnell die zweiten 9.000 Euro weg. Mein Arbeitstitel ist „Freiheit als vulgärer Begriff“. Ich möchte einen Beitrag zur Debatte liefern, wie sich die Auseinandersetzungen um Freiheit durch Corona verändert haben und wie sie durch die Klimakrise verändert werden. Es wird es wahrscheinlich wieder eine Spannung zwischen Bild und Text geben. Freiheit ist ja ein dialektischer Begriff, einerseits ist sie wahnsinnig wichtig, andererseits kann sie wahnsinnig asozial sein.

Aktuelle Ausstellungsbeteiligung von Hannah Wolf
Die Fotoserie „Himmel/kein Himmel“ (2020) ist bis 22. Oktober 2023 in der größten Überblicksschau von regionalen Künstler:innen in Niedersachsen und Bremen zu sehen, der 90. Herbstausstellung des Kunstvereins Hannover, Sophienstraße 2. Wolfs Aufnahmen sind Teil einer Werkgruppe, die die politischen Veränderungen der türkischen Metropole Istanbul unter Erdoğan anhand der Architektur und kleinen Symbolen im Stadtbild – Werbeplanen, Plakaten, Fahnen – nachzeichnet.