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VIER 08 – Beziehungen

Juli 2009

Vivien Anders, Jeferson Brito Andrade, Gregor Schreiter, Caspar Sessler

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„Und überall die Sch..., man müsste eigentlich schweben, jeder hat ´n Hund, aber Keinen zum reden“. 

Ohne Frage sehr zeitgemäß, diese neue Berlin-Hymne, die man gerade überall hört - im „Zeitalter der Selbstverwirklichung“ sind Beziehungen offenbar für ganze Generationen ein schwieriges Feld geworden.

In der Sphäre der Kunst ist das allerdings nichts wirklich Neues. Kunst war immer schon ein einsamer Job, seit eh und je tummeln sich hier Heerscharen von Eigenbrödlern und ungeselligen Zeitgenossen, extreme Individualisten jeglicher Couleur. Auch die vielfältigen Untersuchungen zum Thema „Künstlerehe“ haben in der Mehrzahl nicht gerade Erfreuliches zu Tage gefördert. Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, denn es gibt auch immer wieder recht gut funktionierende Künstlergruppen und in manchen Sparten ist im Gegenteil Beziehungsarbeit in der ausgeprägtesten Form gefordert, man kann schon sagen Hochleistungs-Teamwork. In einem Orchester müssen Dutzende von Individualitäten zu einem einzigen Klangkörper geradezu verschmelzen. Auch in der Kreativwirtschaft dreht sich schlichtweg alles um Kommunikation, nicht zuletzt, wenn es um Auftrags-Aquise und Kundenbindung geht.

Die aktuelle VIER08 versucht im Schwerpunktteil, einige Facetten dieses widersprüchlichen, schier unendlichen Themenfeldes auszuleuchten. Wir greifen damit auch Fragestellungen aus der VIER zum Thema „Selbstständig“ wieder auf, von der wir gut und gerne 1000 Exemplare mehr hätten drucken können, solche Nachfrage erreicht uns bis heute nach dem leider restlos vergriffenen Heft.

So fragen wir danach, wie ein Ensemble mental funktioniert, wir untersuchen die Wirkungsweisen und Bedingungen von „networking“ – ein Begriff, der im Laufe der letzten Jahre einen erstaunlichen Wandel durchgemacht hat - und wir reden mit international erfolgreichen Protagonisten aus der Agentur- und Modeszene über ihre Arbeits- und Kundenbeziehungen. Wir thematisieren die Inszenierung der Geschlechterrolle im Designprozess und bitten einen Psychologen zu klären, welches eigentlich die Voraussetzungen von Beziehungsfähigkeit sind, wo die Klippen lauern, an denen manche scheitern.

Uns interessieren aber nicht nur die Beziehungen zwischen Menschen, auch zwischen Sachgebieten und Kunstwerken vollzieht sich teilweise ein sehr intensiver Austausch. In der Musik geht es dabei um den Begriff der „Kontrafaktur“, und die Vertreter der Sparten Kunst und Design kultivieren unter wechselnden Namen seit Jahrhunderten ein sehr bewegtes „Beziehungsdrama“.

Von noch anderer Art sind die sehr speziellen Beziehungen, die zwischen den Kreativen und ihren Werken bestehen. Wohl jeder hat auf Abbildungen Botticellis „Geburt der Venus“ schon einmal gesehen, vielleicht zu oft, um von diesem Gemälde noch etwas Besonderes zu erwarten. Wenn man aber in Florenz im Halbdunkel der Uffizien vor dem unerwartet großen, ja monumentalen Original steht, dann ist unter der Oberfläche dieses vermeintlich so ruhigen Werkes eine untergründige, fast vibrierende Spannung spürbar, und im Betrachter steigt die Ahnung einer möglicherweise noch ganz anderen Dimension auf. Welche Beziehung mag der Künstler zum Inhalt seines Werkes gehabt haben – oder sollte man vielleicht eher fragen, welche Beziehung hat Aphrodite zu ihm gehabt? Sie, die älteste antike Göttin, die 1475 im kreativen Geist des Florentiner Malers Sandro Botticelli sichtbare Gestalt annahm, Inkarnation der Wiedergeburt der Antike und der olympischen Götter? Wir wissen es nicht. Aber wir sehen den Künstler zehn Jahre nach diesem epochalen Werk auf der Piazza Signoria bei der „Verbrennung der Eitelkeiten“, mittlerweile zu einem bedingungsloser Anhänger des finsteren Bußpredigers Savanarola geworden, wirft er seine eigenen noch erreichbaren Werke in die Flammen – er wird vermutlich seine inneren Gründe gehabt haben.

In dieser Epoche entsteht auch der Liebeskult um die „Beweinten Porträts“ und wir wissen, dass Raffael ohne die leibliche Anwesenheit seiner Muse schlechterdings arbeitsunfähig war. In der Beziehung zwischen Muse und Künstler zeigt sich noch einmal wie in einem Brennglas die ganze Ambivalenz von kreativen Beziehungen, die von gegenseitiger Befruchtung bis zur hemmungslosen Ausbeutung reichen können.

Das Thema „Beziehungen“ zieht sich weiter durch das ganze Magazin, taucht auch im Hochschulteil in unterschiedlichen Bezügen wieder auf, nicht zuletzt bestimmt es das Editorial-Design des Heftes. Eine visuelle Interpretation des Themas bildet das Gegengewicht zu den Textbeiträgen, Ergänzung und Widerpart zugleich. Zwischen den separaten Blöcken bleibt eine Spannung, die sich auch nicht auflöst, „Disharmonie“ ist eben auch Bestandteil einer jeden Beziehung. An einer Kunst- und Musikhochschule ist das allemal eine immer wiederkehrende Alltagserfahrung – aber wie man gerüchteweise hört, soll es mittlerweile ja selbst mit den Hunden manchmal nicht mehr ganz so einfach sein.