VIER 09 – Virtuell
Virtuell - „Zentrale Chiffre des 21. Jahrhunderts“, „Cyberspace“, „Neue Medien“ – so oder ähnlich wohl die ersten Assoziationen zum Stichwort „virtuell“ bei den meisten von uns.
Bei Licht besehen müsste der Begriff jedoch deutlich weiter gefasst werden, denn Virtuelles dürfte den Homo Sapiens schon seit Entstehen der Spezies begleitet haben. Was sind die Religionen, Kunst, Musik, Literatur – aber auch Wahnvorstellungen oder Verschwörungstheorien aller Zeiten – anderes als virtuelle Welten? Ständig verändert haben sich vor allem die jeweiligen Medien. Mit den neuen interaktiven Technologien erleben wir aber fraglos die Entstehung einer völlig neuen Qualität von Virtualität, mit noch ganz ungeahnten Entwicklungspotentialen.
Diese aktuelle Facette des Themas ist es denn auch, die uns in der vorliegenden Ausgabe der VIER vor allem bewegt. An einer Hochschule, die sich mit Kunst, Musik, Design und Digitalen Medien beschäftigt, die also seit eh und je in den virtuellen Welten zu Hause ist, haben die rasanten Entwicklungen auf diesem Feld zwangsläufig eine direkte und sehr spürbare Auswirkung auf den Kernbereich der Arbeit.
THE NINTH ISSUE OF VIER MAGAZINE WILL EXPLORE THE MEANING
OF VIRTUAL SPACE AND ITS POSSIBILITIES IN THE CONTEXT
OF CONTEMPORARY CULTURE.
WE WANT TO FIGURE OUT INDIVIDUAL STANDPOINTS AND STATEMENTS OR QUITE SIMPLY: WE WILL TELL STORIES ABOUT DIFFERENT WAYS
TO HANDLE OMNIPRESENT VIRTUALITY.
Ein Aspekt in diesem Zusammenhang betrifft VIER auch in eigener Sache, wird doch jedes Printmedium unausweichlich mit der Frage konfrontiert, ob Druckerzeugnisse als Teil der analogen Welt im digitalen Zeitalter überhaupt noch eine Zukunft haben.
Mit dem früheren Zeit-Herausgeber Michael Naumann, dem ZKM-Leiter Peter Weibel, mit Mike Gerritzen vom Graphic Design Museum Breda oder Nick Bell aus London – um nur einige wenige zu nennen – konnten wir zu unseren Fragen wieder hochkarätige Gesprächspartner und Gastautoren aus den verschiedensten Feldern aktueller Kultur gewinnen. Nicht zu vergessen die theoretischen Köpfe aus der Hochschule selbst.
Wie ein roter Faden zieht sich durch fast alle Texte die Überlegung, wie das Spannungsverhältnis von Virtualität und „realem“ Raum zu charakterisieren sei.
Handelt es sich um einen Gegensatz? Eine Ergänzung? Oder ist Virtualität schlicht als eine Facette der Realität zu begreifen?
Damit bleibt allerdings die - sehr viel schwieriger zu beantwortende – andere Seite der Frage im Raum stehen: was haben wir denn grundsätzlich unter dieser so genannten „Realität“ zu verstehen? Auf den ersten Blick scheinbar harmlos führt die Frage unversehens an den Rand eines in letzter Konsequenz geradezu bodenlosen Raumes.
„Stelle Dir Menschen vor in einer unterirdischen Höhle. In dieser Höhle sind sie von Kind an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie immer nur geradeaus schauen. Licht erhalten sie von einem Feuer, das hinter ihnen weit in der Ferne brennt. Dazwischen denke Dir eine kleine Mauer errichtet, wie die Schranke, die die Gaukler vor den Zuschauern aufbauen. Längs der Mauer dann Menschen, die allerhand Geräte vorüber tragen. Nie haben sie in der Höhle etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer an die ihnen gegenüberliegende Seite der Höhle wirft. Wenn sie nun untereinander reden könnten, glaubst Du nicht, sie würden irgend etwas anderes für das Wirkliche halten als die Schatten jener künstlichen Gegenstände?“
So der Auftakt von Platons Höhlengleichnis. Dieser Text markiert den Anfang der europäischen Philosophie und gegen die futuristischen Möglichkeiten des gerade angebrochenen digitalen Zeitalters wirkt das Bild archaisch, aber es wird in dieser Parabel zum ersten Mal in Europa die Frage nach dem Wesen der „Realität“, der „Virtualität“ und unseren Erkenntnismöglichkeiten aufgeworfen. Die Problematik hat die Philosophie seitdem nie wieder losgelassen, sie ist bis heute hochaktuell geblieben und gut möglich, dass sie uns in den kommenden Zeiten unter neuen Vorzeichen noch mehr