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Dienstag | 23. Juli 2019

Live bei der „Sinopale 7“ (16.08.–06.09.)

Eindrücke von der kooperativen Biennale im nordtürkischen Sinop

Unter dem Titel „Here and Where – A Politics of Location“ beschäftigt sich die Sinop Biennale 7 mit den Möglichkeiten einer Politik des Lokalen. Die Kuratorinnen Mona Mahall und HfK Professorin Asli Serbest haben vom 17. August bis zum 6. September 2019 international renommierte Künstler*innen eingeladen, um situierte Praktiken und kollektive Prozesse zu generieren.

Vorbereitungen für die Aufführung „Lost Places“. Die HfK-Klasse „Temporary Spaces“ in Zusammenarbeit mit Adelheid Schulz, der Direktorin des theater.prekariat und der Telvin Art Academy.

Für das Projekt „Lost Places – Inner and Outer Landscapes“ arbeitet Adelheid Schulz mit Gästen und Bewohner*innen an „verlorenen Orten“ des öffentlichen Raums. Ausgehend von täglichen Ritualen und performativen Übungen untersucht der Workshop innere und äußere Landschaften in Bezug auf die Wahrnehmung von Entbehrungen. Der Workshop enthält dabei Texte, ortsspezifische Interventionen und Performances in Sinop, Videos, einminütige Skulpturen, ...

Grid Installation von Irena Kukrić und Sinopale Team, Fotos © HfK Bremen / Bonnie Wenzke, Tomma Köhler

Die in Berlin lebende Performance-Künstlerin Mehtap Baydu hat ihre Praxis mit Performance-Arbeiten und Installationen etabliert. Diese konzentrieren sich auf Geschlechterrollen, soziale und politische Themen in multikulturellen Kontexten. Oft wird das Publikum mit symbolischen Objekten und Situationen konfrontiert. Neben Performance und Installation verwendet Mehtap Baydu Skulptur und Fotografie als Medium, um ihre Ideen zum Weiblichen und fragilen Körper auszudrücken. 

In der türkischen Sprache werden bestimmte Speisen in Anlehnung an weibliche Körperteile benannt. Beispielsweise gibt es ein Fleischgericht mit dem Namen „Bauch der Frau“, eine „Suppe der Witwe“ und eine Nachspeise, die „Die Lippen der schönen Frau“ genannt wird. Im Rahmen der Performance hat die Künstlerin mit 11 Frauen 11 Speisen zubereitet und später mit 60 geladenen Gästen verzehrt. Es wurden ausschließlich Speisen gereicht, welche die Bezeichnung von Teilen des weiblichen Körpers tragen oder in einem Bezug zum Weiblichen stehen. Bereits beim mehrtägigen gemeinschaftlichen Kochen standen Austausch und Reflektion über Traditionen und soziale Konventionen im Mittelpunkt. Die Diskussion der Geschlechterrollen und die Hinterfragung gesellschaftlicher Normen prägten auch das Abendessen mit den Gästen.

Performance mit 11 Speisen, von 11 Frauen zubereitet, Video © Yusuf Emre Yalçın

Foto-Stills der Performance von Mehtap Baydu © Yusuf Emre Yalçın

Die türkische Künstlerin Banu Cennetoğlu hat für die Sinop Biennale eine neue Arbeit im öffentlichen Raum produziert: Sie paart die türkischen Begriffe „cennet“ und „cinnet“, die beide auf der gleichen etymologische Wurzel basieren. „Cennet“ (Paradies) und „cinnet“ (Hölle) kommen vom Wort „cin“, das verbergen, verstecken, tarnen bedeutet. Die Begriffe sind jedoch sehr unterschiedlich verwendet oder sogar widersprüchlich: Während „cennet“ die Idee strenger Grenzen beinhaltet, wird „cinnet“ damit in Verbindung gebracht, Grenzen oder Konventionen zu ignorieren.

Cennet/Cinnet, Video © Yusuf Emre Yalçın

Foto-Stills Cennet/Cinnet von Banu Cennetoğlu  © Yusuf Emre Yalçın

Mit der Unterstützung eines hölzernen „Esels“ streift die performative Gruppe „Mobile Albania“ durch Sinop und überwindet Grenzen. Studierende der HfK-Klasse „Temporary Spaces“, andere Student*innen der HfK sowie Teilnehmer*innen aus der Region schließen sich ihr an, um die Umgebung auf neue Weise zu erleben und durch Geräusche, die sie dem „Esel“ zuführen, zu interagieren. „Mobile Albania“ überschreitet Zäune und Mauern, die uns normalerweise auffordern, anzuhalten.

Fotos © HfK Bremen / Laura Baumann

Seit 2009 ist „Mobile Albania“ mit verschiedenen Fahrzeugen durch Deutschland und den europäischen Kontinent gereist: Städte, Straßen, ländliche Gebiete. „Mobile Albania“ ist als offenes Kollektiv mit verschiedenen Künstler*innen, Amateur*innen und solchen, mit denen sie auf der Straße und in den Städten kollidieren, organisiert. Unterwegs entwickelt die Gruppe ständig neue Methoden, um als eine Art Straßenuniversität, als gemeinschaftlicher Raum der künstlerischen Praxis, des Wissensaustauschs und der Produktion einen Dialog mit der Umgebung aufzunehmen. Somit findet ein Theater statt, das seinen Inhalt auf der Straße und aus der Begegnung mit Passanten und Bewohnern schafft.
In Sinop entwickelt Mobile Albania ein mobiles Objekt, mit dem sie sich an die Umgebung anpassen, mit Menschen interagieren und Tourist*innen sein können, aber keine regulären: Durch die Unterstützung eines hölzernen Esels werden sie neue Wege finden, sich in der Stadt zu bewegen.

Walk durch die Stadt Sinop mit der Künstlergruppe „Mobile Albania“, Video © Yusuf Emre Yalçın

Seminar mit Fulya Erdemci, Video © Yusuf Emre Yalçın

Im Zentrum der künstlerischen Praxis der schwedischen Künstlerin Annika Eriksson steht das Interesse an sozialer Interaktion: Wie leben wir zusammen, welche Gesellschaften etablieren wir, und was passiert am Rande oder beim Übergang von einer Gesellschaftsordnung zur anderen? Ihr Projekt beschäftigt sich besonders mit den Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Für die Sinop Biennale arbeitet sie die Vogelarten heraus, die von Sinop aus in ihr schwedisches Herkunfstland ziehen, darunter Bachstelze, Nachtigall, Zaunkönig, Stieglitz, Rotkehlchen, Haubenlerche, Star und Schwalbe. Sie hängt Drucke der verschiedenen Vogelarten in der Stadt auf.

Fotos © HfK Bremen / Laura Baumann

Die Kuratorinnen Asli Serbest eröffnen die diesjährige Sinopale in der historischen Markthalle „Hal“. Das HfK-Projekt „The Dynamic Archive“, vertreten durch Prof. Dr. Andrea Sick sowie Prof. Dennis Paul, geben in ihrem Workshop einen Einblick in das namengebende rezeptive System, um künstlerisches Wissen und Praktiken auszutauschen und verfügbar zu machen. Mit Hilfe dieses interaktiven Werkzeugs können künstlerische Arbeiten kollaborativ bearbeitet werden – von verschiedenen Künstler*innen, von überall auf der Welt.

Eröffnung der Sinopale 7 in der historischen Markthalle Hal in Sinop, Video © Yusuf Emre Yalçın

Fotos © HfK Bremen / Laura Baumann

Prof. Dr. Sick und Prof. Paul mit Forschungsprojekt „The Dynamic Archive“ sowie Prof. Serbest mit ihrem Studierenden-Kollektiv „Temporary Spaces“ vor Ort

Bereits zum siebten Mal wird in der nördlichsten türkischen Stadt Sinop – die idyllisch am Schwarzen Meer liegt – eine kleine, aber renommierte Biennale veranstaltet. Unter dem Titel „Here and Where – A Politics of Location“ beschäftigt sie sich mit den Möglichkeiten einer Politik des Lokalen. Die „Sinopale 7“ findet vom 16. August bis zum 6. September 2019 statt und will situierte Praktiken und kollektive Prozesse generieren. Ihren Ausgangspunkt hat sie dabei in der ehemaligen Markthalle „Hal“ im Zentrum von Sinop. Von dort aus erforschen Künstler*innen, Architekt*innen und Wissenschaftler*innen im Austausch mit lokalen Gruppen verschiedene Orte der anatolischen Schwarzmeerregion und sammeln auf gemeinsamen Wegen Erfahrungen, Geschichten und Wissen. 

Für die Hochschule für Künste Bremen steht nicht nur Interdisziplinarität und Kooperativität auf ihrem Programm, sondern auch das aktive Weitertragen von liberalem Gedankengut und das Einstehen für Toleranz und demokratische Prozesse. Bei ihrer Teilnahme an der Sinop Biennale setzt sie damit aktiv ein Zeichen für die Signifikanz von künstlerischen Projekten in einem globalen Kontext, zumal in einer Zeit, in der im Hinblick auf das Verhältnis von Europa und der Türkei viel Engagement gefragt ist.

The 7th Sinop Biennial Poster Series © Mona Mahall, Asli Serbest

Als Modifikation des Idioms „hier und da“ bezieht sich der Titel „Hier und Wo“ der diesjährigen Sinop Biennale auf einen Ort jenseits der Grenze unserer Wahrnehmung; ein Ort, der von unseren dominanten Narrativen ausgeschlossen ist; an dem jedoch politische und soziale Realitäten zusammen mit einer Geschichte des materiellen, sprachlichen und mythologischen Austauschs die gegenwärtige Lebenswelt bilden. Das Lokale bestimmt sich nicht durch einen begrenzten Ort, sondern durch historischen Kontakt, in Beziehungen, Übersetzungen und Verschiebungen. Das Lokale findet als Reihe von Begegnungen, Kontakten und Konflikten – als Reiseroute – statt; auf Bahnen, die Bewegungen von Lebewesen und Dingen ermöglichen und zugleich disziplinieren.
Die Sinopale will alternative Wissensprozesse initiieren, neue kollektive Praktiken testen, Kunst produzieren und nicht nur platzieren. Ziel ist es, mögliche andere und emanzipierte Beziehungen zwischen Gästen, der lokalen und globalen Umwelt und ihren Bewohnern (Tieren, Menschen, Pflanzen, Technik) zu entwickeln. Um diese Wissensformen von der Schwarzmeerküste nach Istanbul und an andere Orte zu übertragen, lassen die Kuratorinnen Asli Serbest und Mona Mahall ein offenes und nomadisches Archiv erstellen, um die etablierten Praktiken und kollaborativen Prozesse fortzusetzen und zu teilen.

Das ebenfalls an der HfK Bremen gestartete Forschungsprojekt „The Dynamic Archive“, das von Prof. Dr. Andrea Sick und Prof. Dennis Paul geleitet wird, ist für die Sinopale von zentraler Bedeutung. Nicht allein wird es in Sinop zu künstlerischen Praktiken forschen und hierzu Interviews mit den Künstler*innen führen. Die Notationen und Prinzipien der in Sinop beteiligten Künstler*innen werden als Komponenten Eingang in das Dynamische Archiv finden, das nach dem 6. September dann unter anderem in Istanbul, Bremen und Berlin präsentiert und zur Diskussion gestellt wird. Das Dynamische Archiv ist ein rezeptives System, um künstlerisches Wissen und Praktiken auszutauschen und verfügbar zu machen. Kollaborative Prozesse können so erforscht und erprobt werden. Dieses interaktive Archiv ist somit ein Werkzeug, in dem Arbeitsbeschreibungen, Notationen von Choreografien, Software, Tools etc. von künstlerischen Arbeiten abgelegt werden. Diese können dann einerseits im Ganzen oder auch nur in einem ausgewählten Teil von anderen Künstler*innen weiterentwickelt oder andererseits zum Ausgangspunt für neue Arbeiten werden. Das so stetig wachsende Dynamische Archiv wird derzeit – in Anlehnung an Prinzipien des Luhmannschen Zettelkastens – mit dem Berliner Studio The GreenEyl als Webapplikation, aber auch mit physischen Komponenten realisiert. In einer ersten Version ab Oktober 2019 wird es mit zahlreichen Archivkomponenten öffentlich zur Verfügung stehen.
Weitere Informationen zum „Dynamischen Archiv“ unter thedynamicarchive.net

Kuratorinnen der Sinop Biennale 7 sind Asli Serbest, Professorin für Temporäre Bauten an der HfK, und Mona Mahall, die an der HafenCity Universität Hamburg die Professur für Architektur und Kunst innehat. Beide sehen in der Sinopale den Auftakt zu einer „wachsenden Ausstellung“. Sie erhoffen sich von den teilnehmenden Künstler*innen und deren Projekten, dass damit Prozesse initiiert werden, die sich in den kommenden Monaten noch weiterentwickeln werden. Nach dem Ende der Sinopale am 6. September 2019 schließt sich eine dokumentierende Ausstellung in Beyoğlu/Istanbul (12.–20. September 2019) an, die ab Dezember auch in Berlin zu sehen sein wird.

Die HfK Bremen wird mit einer ganzen Reihe von Angehörigen des Fachbereichs Kunst und Design aus verschiedenen Lehrgebieten teilnehmen. Neben Prof. Asli Serbest werden dies die Lehrenden Prof. Dr. Andrea Sick (Medientheorie, Kultur- und Mediengeschichte) und Prof. Dennis Paul (Interaktion und Raum) sein sowie 15 Student*innen aus der Freien Kunst, dem Integrierten Design und den Digitalen Medien und drei Absolvent*innen.
Asli Serbest ist sich ihrer Doppelrolle als Kuratorin der „Sinopale 7“ und als HfK-Professorin bewusst: Ihr Studierenden-Kollektiv „Temporary Spaces“ leistet ebenfalls seinen künstlerischen Beitrag zur Ausstellung. Serbest wünscht sich für die dreiwöchige Kunstbiennale einen freien und kreativen Austausch sowie ein konstantes Hinein- und Heraustragen von Themen und Haltungen: „Obgleich sich dieses Projekt durch intensive Vorarbeiten in den HfK-Klassen und -Seminaren wie durch eine eingehende Forschungsreise von Mona Mahall und mir auszeichnet, soll es als Gesamtprojekt während der Zeit in Sinop bewusst offen gestaltet sein. Die Konzentration auf eine solch offene Struktur ermöglicht es, im Rahmen einzelner künstlerischer Formate wie Workshops, Roundtables oder auch Präsentationen sowohl einen inklusiven Handlungsraum zu schaffen als auch Kunstproduktion als einen aktiven und politischen Prozess zu erproben.“
Die Prozesse, die von den Künstler*innen vor Ort begonnen werden, sollen nach Beendigung der Biennale noch intensiviert und reflektiert werden. Als potenzieller Veranstaltungsort ist hierfür das Projekt „Nomadische HfK“ denkbar. Dieses von Asli Serbest und Mona Mahall konzipierte und derzeit zu realisierende Ausstellungskonzept einer „schwimmenden Galerie“ wird voraussichtlich 2020 fertig gestellt. Es eröffnet als ein mobiler Ausstellungsraum der HfK Bremen neue Möglichkeiten, ihre Projekte und Arbeiten innovativ außerhalb der beiden Standorte Speicher XI und Dechanatstraße in die übrige Stadt hineinzutragen. Geplant sind verschiedene Anlegestellen, zum Beispiel im Europahafen, an der Weserburg, der Kunsthalle, wo der auf Pontons schwimmende Ausstellungsort vertäut und temporär von den Studiengängen des Fachbereichs Kunst und Design als weitere HfK-Galerie genutzt werden kann.

Die Kuratorinnen Asli Serbest und Mona Mahall konzipierten die Sinop Biennale als eine prozessorientierte Kunstveranstaltung, die von der Partizipation der und dem unmittelbaren Austausch zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Studierenden und vor allem der Bevölkerung bzw. dem Umfeld vor Ort lebt. Asli Serbest und Mona Mahall arbeiten seit 2007 als Kollektiv zusammen. Durch ihre forschungsbasierte Praxis reflektieren und produzieren sie Raum in unterschiedlichen Medien und Formaten: Installationen, Architekturen, Ausstellungen, Szenografien sowie (Video-)Texte, Konzepte und Publikationen. Ihre Projekte untersuchen vergangene, gegenwärtige und zukünftige Kontexte mit dem Ziel, die Relationen zwischen Architektur, Kunst und dem Politischen zu verhandeln. Sie stellen aus und publizieren international, unter anderem bei der Biennale di Venezia, 2012, 2014, 2019; Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2015, 2018; Riverrun Istanbul, 2018; Pinakothek der Moderne, München, 2017; Storefront for Art and Architecture, New York, 2014, 2015; HKW, Berlin, 2012; Vancouver Art Gallery, 2013; Künstlerhaus Stuttgart, 2013; New Museum, New York, 2009; in E-Flux journal, Volume Magazine, Perspecta, The Gradient: Walker Art Center, AArchitecture, Deutschlandfunk und anderen Online- und Offline-Publikationen.
Mehr Informationen zum Programm der Sinopale gibt es auf der offiziellen Webseite, bei Facebook, Twitter oder Instagram.

Die Sinopale wird unterstützt vom Institut für Auslandsbeziehungen, Saha, der Hochschule für Künste Bremen und dem Freundeskreis der HfK Bremen sowie von SPOT Projects und dem Goethe-Institut.